Die Stärken von Frau B.

Frau B. kam mit einer heiseren und hörbar belasteten Stimme.
Ein wesentlicher Faktor, der zur turnusmäßigen Verschlechterung ihrer Stimme beitrug, war ihre innere Hektik. Alles musste sofort und schnell und am besten für alle anderen gleich mit erledigt werden.  „Meine Arbeitskolleginnen und meine Familie sagen, du bist  bekloppt… Aber ich brauche das. Es tut mir gut, immer in Bewegung zu sein und immer etwas zu tun zu haben. Urlaub halte ich nicht gut aus. So bin ich eben.“ So beschrieb sich Frau B.
Ich bestärkte Frau B. darin, dass ihr Verhalten nicht „bekloppt“, sondern diese Schnelligkeit und Aufmerksamkeit eine ihrer besonderen Fähigkeiten sei. Mit diesem Aspekt arbeiteten wir. In einer Trance stellte sie sich vor, dass sie ihren Hals- und Schulterbereich von innen reinigt und zwar so gewissenhaft und aufmerksam, wie sie es in der Regel mit den Dingen in ihrer Umgebung tut.
Nach einigen Wochen wurde ihre Stimmer klarer und belastungsfähiger, die Hals-, Nacken- und Schultermuskulatur entspannte sich etwas mehr. „Ich kann jetzt plötzlich Dinge liegen lassen und verausgabe mich nicht mehr so….“

Auch wenn unser Vorgehen auf den ersten Blick so aussieht, wie eine paradoxe Intervention  —  die ja bekanntlich ein deutliches Interesse daran hat, ein bestimmtes Zielverhalten zu erwirken —   so  geht es mir eher immer wieder um den Prozess des Annehmens. Erst dann entdeckt man die eigenen Stärken, die sich zuweilen hinter der Symptomatik verbergen.

zwei Stimmen

die beiden Stimmqualitäten bekommen ein Gesicht, inzwischen hat sich orange in rot gewandelt

„Ich rede nicht gerne, erst recht nicht, wenn man von mir erwartet, dass ich reden soll. Ich schreibe lieber e-mails, das fällt mir leichter.“ Verena, eine junge, talentierte Grafikerin.

„Das ist völlig in Ordnung“, sage ich „gibt es denn Situationen, in denen Sie Freude am Sprechen haben?“  „Ja, mit meiner Schwester rede ich entspannt, und früher in der Jugendgruppe, da konnte ich auch reden, wie ich wollte und fühlte mich wohl dabei, und ich habe die Freude am Singen entdeckt.“

„Gut  —  wo im Körper sitzt dieses angenehme positive Gefühl von Sprechen oder Singen?“ Spontane Antwort: “Im Bauchraum“. „Können Sie diesem Gefühl eine Farbe geben?“ –„Gelb-orange“.

Wir beschäftigen uns eine Weile mit dem Beobachten dieses Gefühls, bis wir uns der anderen Stimme zuwenden.  Der Stimme, die repräsentativ ist für ihre Widerstände und ihre Unlust zu sprechen. Das Gefühl, das für diese Stimme steht, heißt Druck, Angst, Unwillen.  Dieses Gefühl ist grau und sitzt im Schulter- und Nackenbereich.
„Beobachten Sie es, ohne es zu bewerten, ohne eine große Geschichte daraus zu machen. Dieses Gefühl darf einfach  da sein.“ Nach und nach, so berichtet die junge Frau, ganz langsam breitet sich dabei die gelb-orangene Farbe im Bauchraum aus. „Darf sie weitergehen und das Grau berühren?“ Sie nickt. „Die beiden Farben vermischen sich, mein Nacken ist jetzt graugelb…“

Das genügt fürs erste.

Im Unterbewusstsein durfte bereits ein vorsichtiger Impuls für eine Integration der beiden unterschiedlichen Stimmgefühle stattfinden.

Julians kraftspendender Adler

https://engelkenmarianne.files.wordpress.com/2012/06/adler.jpg   Julian ist 10 Jahre alt.  Julian ist ein großartiger Sportler. Julian weiß genau, was ihm gut tut. Julian ist ein besonderer Junge. Julian ist sehr eigenwillig. Und Julian stottert.  Er kommt überwiegend gut mit seinem Stottern zurecht. Nur gelegentlich holt er sich Unterstützung.

Heute wünscht sich seine Mutter, dass er mir erzählt, warum er   schulfrei hat. Er könnte mir so viele schöne Dinge erzählen. Er will aber nicht! Und er weiß genau, was er will und was nicht. Gemeinsam gehen wir in meinen Raum.
Er darf ein Krafttier auswählen. Blind wählt er den Adler. Der Adler steht für Visionen, Mut und Männlichkeit…

“Mit deinem Adler an der Seite hast du viel Kraft”, sage ich ihm, ” Was wollen wir damit machen?”
Er entscheidet sich für das Karussellspiel. 

Die Zwerge von Schneewittchen drehen sich mit dem Kettenkarussell. Wir legen verschiedene kleine Gummitierchen auf das Dach des Karussells und wetten, ob sie bei zunehmender Geschwindigkeit hinunterfallen, oder sich auf dem Dach halten können. Es entwickelt sich ein Kräftemessen. Wem gelingt es am besten, die Tiere nach seinem Willen mit magischen Kräften zu beherrschen. Und Julian, der  meint, seinen Ansprüchen nie gerecht zu werden, der kein Lob ertragen kann, verwandelt sich. Jetzt IST er der Adler, und er genießt es. Er wird locker, beginnt zu erzählen von ganz anderen Dingen, dass er gleich im Anschluss an die Stunde ein U- Boot kaufen geht, von seinem Taschengeld. Er beschreibt das U-Boot und stottert dabei immer weniger.

Julians Mutter kommt herein
In diesem Augenblick ändert sich etwas. Schon kurz bevor es an der Tür klopft, habe ich intuitiv das Spiel beendet. Plötzlich betrachte ich es mit den Augen von Julians Mutter: “Was machen wir hier eigentlich? So ein banales Spiel. Wir sollten doch etwas Sinnvolles tun, etwas, das mit Sprechen üben zu tun hat.”

Der Druck, den Julians Mutter in sich trägt, hat so eine Macht, dass er auch mich erfasst. Ich merke das viel zu spät.  “Oh je, ich habe mich immer noch nicht darum bemüht, zu erfahren, warum Julian schulfrei hat”.
Julians Mutter erkundigt sich, ob er es erzählt hätte. Ich beginne einen Spagat, möchte beiden entgegenkommen, es gelingt mir nicht. Was ist hier los?  Habe ich denn  plötzlich vollkommen  vergessen, dass man möglichst vermeiden sollte, stotternde Kinder unter Sprechdruck zu setzen?

Da platzt es aus Julian heraus:” ICH WILL NICHT!!! MUSST DU MIR IMMER ALLES AUS DER NASE ZIEHEN???

Ich atme tief aus und entspanne mich etwas. Erst später wird mir klar, dass er in diesem Moment genau das richtige gesagt hat.
Frau N. kann stolz auf ihn sein.

Die Stunde ist zuende. Ich gebe Julian den Adler als Begleitung mit.

Mein K ist eine Fliege

Lena ist ein kleines noch nicht ganz fünf-jähriges Mädchen. Nein, klein ist sie ganz und gar nicht, eher wirkt sie körperlich und auch in der sozialen Entwicklung wie eine Sechsjährige.
Sie kommt mit ihrer Mutter in die logopädische Praxis, weil sie sich ärgert, dass sie das K und das G noch nicht sprechen kann. Sie ersetzt diese Laute konsequent durch T und D.
Das verleiht ihrem Sprechen etwas Kleinkindhaftes.
“Könnte es sein, dass sich Lena unbewusst mit dieser Sprechweise noch eine Kleinkind- Nische erhält?” , frage ich ihre Mutter. “Das wäre nicht auszuschließen”, überlegt diese.
In der nächsten Therapiestunde bitte ich Lena, ein Bild von sich selbst zu malen. Sie zeichnet eifrig ein Mädchen mit langen Beinen. “Wenn dein “K” ein Tier wäre, wie sähe es aus, und wo würdest du es hinmalen,” frage ich Lena.
Lena malt eine kleine Fliege zwischen ihre Beine. https://engelkenmarianne.files.wordpress.com/2012/05/marceline.jpg

Lena`s “K” ist eine Fliege, die sich noch etwas versteckt hält und noch nicht hervorkommen möchte. “Weißt du schon, wann die Fliege sich zeigen möchte?” frage ich Lena.  “Im Sommer” –  klare Aussage.
“Dann kommt dein “K” im Sommer, du brauchst dir also gar keine Sorgen zu machen”, antworte ich.
Ich stelle Mutter und Kind vor die Wahl, ob sie den Sommer abwarten wollen, oder ob sie das “K” mit meiner Hilfe ein bisschen locken wollen. Die Beiden überlegen kurz und kommen dann zu der Entscheidung, dass es doch ganz spaßig sein könnte, das “K” ein wenig gemeinsam zu locken…